Prof. Dr. Bernd Mayer ist Pharmakologe und Leiter des Instituts für Pharmazeutische Wissenschaften an der Universität Graz. Er hat gestern ein Video auf seinem YouTube Kanal veröffentlicht, in dem er auf drei Themen eingeht. (Video unten)
Als dritten Punkt sprach er ein Thema an, das mich umtreibt, seitdem ich mich mit dem Thema Tobacco Harm Reduction beschäftige.
Daher wollte ich das gerne kommentieren.
Ich glaube, dass das Thema für die Kommunikation innerhalb der Wissenschaften und mit Politikern so relevant ist, dass ich es nicht bei einer Mail belassen wollte.
Zumal ich dazu auch schon Artikel veröffentlicht habe und es zu (konstruktiven) Diskussionen in den Kommentarspalten kam.
Daher habe ich das Mittel des offenen Briefes gewählt.
So bekommt der geneigte Leser auch einen Eindruck, welcher Austausch fernab der Öffentlichkeit zwischen den Stakeholdern der Harm Reduction ständig stattfindet.
Nur halt mal für Leser ausformuliert.
Ich habe Prof. Dr. Mayer vorher darüber informiert.
Lieber Bernd,
Du hast in Deinem gestrigen YouTube Video gleich drei Themen behandelt.
Was ich sehr sympathisch finde. Es gibt Konsumenten Einblicke, wenn der Herr Professor sich einmal „verplaudert“, wie Du selber sagst.
Als letztes Thema hast Du die Verwirrung um die Begrifflichkeit des Rauchstopps angesprochen.
Wofür ich Dir wirklich dankbar bin. Denn dieses Thema beschäftigt mich, seitdem ich über Tobacco Harm Reduction schreibe.
Du kommst zu dem Schluß, dass „Aufhören zu Rauchen“ per Definition eine Verhaltensänderung beinhalten muss.
Ich möchte Dir da widersprechen. Eine meiner liebsten Phrasen ist inzwischen „eine andere Perspektive anbieten“.
Ich war in meiner Anfangszeit in diesem Thema tatsächlich verwundert, welches babylonische Sprachgewirr herrscht. Denn für jemanden mit psychologischer Perspektive erscheint das alles völlig offensichtlich.
Dazu muss ich aber für die geneigten MitleserInnen etwas ausholen.
Sprache mäandert
Kommunikation verändert sich. Sprache verändert sich.
Theoretisch ist uns das allen klar. Doch weil das langsam und schleichend passiert, wird es uns selten bewusst.
Schüler können recht verstehend Erich Maria Remarque lesen. Beim Freiherrn von Goethe fällt das schon deutlich schwerer. Obwohl es nur 150 Jahre Unterschied sind.
Nicht nur Syntax und Rechtsschreibung ändern sich. Sondern auch Vokabeln. Der von Dir zitierte Tolkien hat nicht nur haufenweise Neologismen eingefügt. Sondern ganze Sprachen erfunden, die er auch noch zitiert. (Sauron war übrigens der Erzböse, Saruman nur Mitläufer, nix zu danken.) Trotzdem ist es leichte Kost. Jeder kann es lesen und verstehen, der drei Seiten Landschaftsbeschreibung erduldet.
Kein native tongue Englischsprachiger versteht das Wort „Handy“. Weil es eine deutsche Marketingschöpfung ist. Da das Marketing davon ausgeht, dass englischsprachige Begriffe in Deutschland und Österreich erfolgreicher sind. Kein Franzose käme auf so eine Idee.
Das Wort „mäandern“ stirbt aus, weil alle Flüsse begradigt wurden und kaum noch etwas mäandert. Dafür benutzen wir bis heute die „Spießgesellen“ des Dreißigjährigen Krieges, obwohl es lange keine mehr gibt. Und weil es in amerikanischen Kolonien keine Kindergärten gab, ist in Nordamerika der deutsche Begriff „Kindergarten“ eine offizielle Bezeichnung. Was uns wundert, obwohl wir selber reihenweise englische Vokabeln nutzen.
Sprache ist ein lebender Organismus, sie spiegelt Erlebnishorizonte und Lebensrealitäten wider.
Viele kennen die Urban Legend, dass Eskimos sieben Wörter für Schnee haben. Das ist falsch, Deutschsprachige kommen schon auf so viele. Tatsächlich haben Eskimos dutzende Wörter.
(Und es ist Unfug, dass man nicht mehr „Eskimos“ sagen darf, denn Inuit sind nur ein Teil der Eskimo Völker. Political Correctness gone wrong.)
Dampfer verändern den Sprachgebrauch
Bis vor etwa einem Jahrzehnt gab es nur eine einzige relevante Möglichkeit Nikotin zu konsumieren: Dem Inhalieren von verbranntem Tabak.
Schnupftabak und Kautabak namen eine so geringe Stellung in der allgemeinen Wahrnehmung ein, dass sie keinen Eingang in die Gemeinsprache gefunden haben. Als Ausnahme sei vielleicht Bayern erwähnt, wo „schnupfen“ eine völlig anerkannte Tätigkeitsbeschreibung ist. Was ein Krabbenfischer aus Büsum höchstens als Naseputzen verstehen würde.
Inzwischen haben deutschsprachige Dampfer viele Neologismen und Adaptionen eingeführt.
Ich bin nicht sicher, ob es abseits von E-Zigaretten „Akkuträger“ gibt. „Verdampfer“ waren allerdings nur in der Industrie zu finden. Und hätte ich in den 1990ern einem Freund gesagt, dass ich dampfe, hätte er mir einen Arztbesuch empfohlen.
Wenn etwas Neues auftaucht, muss Sprache sich anpassen.
Genau das ist der Grund, warum das Marketing von Philip Morris bewusst versucht, das zu beeinflussen. Indem sie versuchen für die Nutzung der IQOS den Begriff des „heeten“ zu etablieren. Weil die „Zigaretten“ für die IQOS „Heets“ heißen. Man will den Sprachgebrauch weg vom Rauchen steuern. Mit „dampfen“ käme man allerdings nicht weit. Also muss etwas Neues her. Am besten etwas mit Markenbindung.
Im akademischen Duktus braucht eine Veränderung immer länger als in der Gemeinsprache.
Das hat nicht nur damit zu tun, dass vor allem Mediziner und Juristen im Grundstudium mit Latein und Altgriechisch lernen müssen so zu sprechen, dass kein anderer sie versteht. Sondern damit, dass in der Wissenschaft alles sehr detailliert und korrekt sein muss.
Rauchstopp ist ohne Rauch
Doch genau das Problem des mangelnden Wortschatzes finden wir eben auch in der Wissenschaft.
Es gibt keinen Begriff für jemanden, der vom Kautabak loskommen möchte. Denn was sollte er anstreben? Einen Rauchstopp? Einen Nikotinstopp? Und erfüllt er überhaupt die Kriterien einer Abhängigkeit laut ICD und DSM?
Ist ein Junkie, der an einem Methadon-Programm teilnimmt und ein völlig normales Leben führt, noch ein Junkie?
Was ist mit den Formblättern, auf denen man ankreuzen muss, ob man Raucher oder Nichtraucher ist? Und was meinen die mit Nikotinabusus wirklich, wenn man keinen Rauch inhaliert? Warum fragen die nicht nach Coffeinabusus?
Und was ist mit dem Arzt, dem ich erstmal erklären muss, dass ich Nikotin konsumiere, aber keinen Rauch inhaliere? Und was machen Kautabaknutzer da?
Unsere Sprache stößt an Grenzen. Weil etwas Neues dazugekommen ist, dass wir noch nicht sprachlich erfassen können. Eine signifikante, neue Form des Konsums von Nikotin.
Signifikant deshalb, weil so viele Menschen die E-Zigarette nutzen, dass es auch gemeinsprachlich und wissenschaftlich relevant wird.
Und da wird es tatsächlich interessant. Denn diese Sprachlosigkeit führt zu vielen Missverständnissen. Nicht nur bei Konsumenten, sondern in der Kommunikation von Wissenschaftlern untereinander und in der Wahrnehmung der Politik.
Du hast als Wissenschaftler natürlich geschaut, wie „Aufhören zu Rauchen“ definiert ist.
Aber genau das ist meine Kritik. Denn das sind die „alten“ Definitionen. Als es nur das Rauchen als Form des Nikotinkonsum gab.
Vorher hast Du „Rauchstopp“ als das definiert, was es logischerweise ist: Wenn jemand aufhört Rauch zu inhalieren.
Ich möchte dafür plädieren, es genau bei dieser Definition zu belassen.
Rauchstopp ist Inhalationsstopp?
Wie Du weißt, hat der Dir bekannte Prof. Dr. Fagerström den nach ihm benannten Test längst von „Test für Nikotinabhängigkeit“ umbenannt in „Test für Zigarettenabhängigkeit“.
Und damit komme ich zu der Perspektive, die sicher die meisten Psychologen haben.
Die Abhängigkeit von Zigaretten ist eben nicht nur die Abhängigkeit vom Nikotin. Diese Annahme führt auf politischer Ebene zu den unsinnigen Warnhinweisen auf Verpackungen.
Leider wird der Faktor der Verhaltensabhängigkeit von vielen Wissenschaftlern vieler Disziplinen ignoriert. Zumal es auch sehr schwer zu beforschen ist.
Doch damit sollten wir uns nicht zufriedengeben. Eben weil E-Zigaretten und Tabakerhitzer etwas so Neues sind. Und bahnbrechend sein könnten.
Abhängigkeiten sind ungemein vielschichtig und haben sehr viele Faktoren. Es wäre falsch, wenn wir uns durch einen überalterten sprachlichen Konsens einschränken lassen.
So benutzen vor allem viele US-amerikanische Forscher den „Rauchstopp“ zur Beschreibung der Entwöhnung. Also des Konsumstopps von Nikotin.
Du selber plädierst aber immer wieder dafür, dass eine Gewohnheit, die keinen Schaden verursacht, auch nicht kritisch ist. (Zwangsstörungen lassen wir mal außen vor.)
Warum sollte man sich dieser Definition also anschließen?
Können wir in der sehr strengen, genauen aber wunderbar flexiblen deutschen Sprache nicht lieber von einem „Konsumstopp“ oder „Inhalationsstopp“ sprechen, wenn wir das auch meinen?
Die Genussdroge Dampf
Ich selber bezeichne die E-Zigarette längst als Genussmittel. Es ist eine Genussdroge, wie Zigaretten und Alkohol es auch sind.
Die Differenzierung ist eigentlich sehr einfach: Ich kann ein Glas Wein trinken oder eine Zigarette rauchen, ohne eine Bewusstseinsveränderung anzustreben. Das geht mit anderen Drogen nicht. Wer einen Joint raucht oder sich einen Schuss Heroin setzt, der tut das selten in geselliger Runde beim sonntäglichen Familienessen.
Die E-Zigarette ist falsch aufgehoben, wen wir sie mit Drogen auf eine Stufe stellen. Und durch ein verändertes Suchtverhalten ist sie auch falsch, wenn wir sie mit Tabakabhängigkeit auf eine Stufe stellen. Ebenso wie Zigarren oder Shishas, deren Konsumenten selten die Kriterien einer Abhängigkeit erfüllen.
Andererseits kann es aber auch keine Diskussion darüber geben, dass Dampfer fast immer abhängig sind.
Selbst wenn sie ohne Nikotin dampfen, kann im Einzelfall eine Verhaltensabhängigkeit vorliegen. Da sollte sich niemand etwas vormachen. Und das muss man auch so signalisieren. Sowohl innerhalb der Blase, wie auch der Wissenschaft und der Politik.
Doch das wird nicht mehr durch die gängigen Definitionen im DSM oder ICD abgedeckt. Man kann es so pauschal gar nicht mehr sagen.
Der Inhalationsstopp und die Verhaltensänderung ist nicht Sinn und Zweck der E-Zigarette. Die Entwöhnung ist nicht das Ziel. Das kann und soll die E-Zigarette ja gar nicht leisten. Sondern lediglich die Harm Reduction.
Und da gebe ich Dir völlig recht und bin froh, dass Du das mal so deutlich thematisierst.
Deshalb halte ich es für falsch, sich an der althergebrachten Definition des Rauchstopps aufzuhalten.
Ich für meinen Teil definiere Rauchstopp genau so, wie Du bisher: Die Unterlassung der Inhalation von Rauch.
Also ich für mich…
Werde ich heute gefragt, ob ich Nichtraucher bin, sage ich ja. Mein Konsumverhalten hat sich völlig von dem Ritual entkoppelt.
Trotzdem bin ich abhängig.
Viel weniger als bei Tabakzigaretten. Tatsächliche „Rituale“ und der Zwang sind Geschichte. Ich fühle mich frei. Ich bin frei von Leidensdruck.
Es ist unmöglich, das binär einzuordnen.
Denn die Maßgabe muss doch sein, ob ich ein selbstbestimmtes Leben führen kann, ohne nachts um vier zur Tanke zu laufen oder im Film das Kino verlasse um eine durchzuziehen.
Und das ist in meinen Augen auch der ganz große Unterschied zur IQOS. Weil man eine Heets „Zigarette“ aufrauchen muss. Das Konsumverhalten und Ritual von Tabakzigaretten wird (gewollt) beibehalten. Weshalb ich IQOS derzeit behelfsmäßig auch als Rauchen bezeichne. Auch wenn naturwissenschaftlich nur Dampf herauskommt.
Maßgabe und Kriterium muss die psychologische Komponente sein.
Sprache muss sich anpassen
Das ist für mich keine akademische Diskussion oder Wortklauberei. Wir müssen unsere Sprache schärfen, um die Unterschiede deutlich zu machen. Abstraktionsvermögen ist gefragt.
Umso mehr, als dass die Vorteile von der Politik ignoriert werden.
Dampfen ist etwas Neues. Es kann nicht nur das Leben von Milliarden Rauchern verändern, sondern unser aller Wahrnehmung von Nikotinkonsum. Und wir sollten uns zutrauen, Sprache verändern zu können.
Ich sehe eine große Gefahr darin, uns auf überholte Begrifflichkeiten einzulassen. Zumal Begrifflichkeiten von Menschen, die der Tobacco Harm Reduction ablehnend gegenüberstehen.
Überlassen wir den Gegnern der E-Zigarette – Du nennst sie gerne ANTZ – die Deutungshoheit, können alle alternativen Formen des Nikotinkonsums und der Tobacco Harm Reduction nur verlieren.
Denn wenn die E-Zigarette, Snus und Tabakerhitzer in der Gemeinsprache nicht als Rauchstopp verstanden werden, wird es mit dem Rest schwerer, als es eh schon ist. Es hat bummelig 15 Jahre gedauert, bis alleine das Wort „Dampfen“ bekannt wurde. Und selbst viele Konsumenten sagen heute noch „rauchen“.
Wir müssen auch sprachlich klar machen, dass es etwas anderes ist.
Die alternativen Konsumformen sind etwas Großes; mindestens so groß wie die Einführung des Tabaks in Europa. Warum ist es übertrieben zu erwarten, dass der Sprachgebrauch sich dem anpasst? Anstatt das wir krampfhaft versuchen, die neue Konsumformen in alte Schemata zu pressen?
Demnächst kommt noch einer auf die Idee, Nikotin-Tees anzubieten. Was machen wir denn dann?
Selbstverständlich sind die Definitionen Deiner zitierten Quellen richtig.
„Rauchstopp“ bedeutet die Entwöhnung und Verhaltensänderung. Aber diese Definitionen stammen aus der Zeit vor E-Zigaretten, Snus und Tabakerhitzer. Vor der Differenzierung von Substanzabhängigkeit und Verhaltensabhängigkeit. Bevor moralinsaue Jakobiner auf den Tabakzug aufgesprungen sind.
Wenn wir schon den Konsum von Nikotin neugestalten wollen, sollten wir uns trauen, den Gebrauch von Sprache neu zu definieren. Es ist der Sache angemessen.
„Rauchstopp“ sollte nicht weiterhin als das definiert werden, was es bisher bedeutet hat. In einer Welt ohne Tabakerhitzer und E-Zigaretten. Nicht als Entwöhnung, nicht als Verhaltensänderung, nicht als der Stopp des Konsums von Nikotin, sondern als der Stopp des Konsums von Rauch.
So, wie Du es selber bisher definiert hast.
Dampfen ist Rauchstopp.
Aber Dampfen ist weder eine Verhaltensänderung noch eine Entwöhnung.
Ich sehe da keinen Widerspruch.
Ich bitte Dich, Deinen Sprachgebrauch oder Deine Definition nicht anzupassen.
Ich möchte Dich als einen wichtigen Vertreter der Tobacco Harm Reduction bitten, die Chuzpe aufzubringen, neue Definitionen zu etablieren und alte zu hinterfragen.
Nicht wir müssen uns anpassen. Sondern die Sprache muss sich den neuen Gegebenheit anpassen.
Mit freundlichem Gruß
Joey Hoffmann
Joey Hoffmann
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