Anlässlich der derzeitigen Steuerpläne haben die Interessengruppen IG-ED und ExRaucher gestern gemeinsam dazu aufgerufen, an Bundestagsabgeordnete zu schreiben.
Leider muss ich erneut davon abraten.
Dabei geht es nicht darum, grundsätzlich davon abzuraten.
Mir macht (erneut) der Kontext Bauchschmerzen, in dem dazu aufgerufen wird. Was ganz offensichtlich in einer Form geschieht, die Dampferinnen und Dampfer ansprechen und mobilisieren soll, die sich ansonsten nicht weiter mit Politik beschäftigen.
Doch das reicht eben nicht.
Entweder, die verantwortlichen wollen das nicht einsehen, sie verstehen es nicht, oder sie wollen ganz bewusst die Wutdampfer einsammeln. Was dann schon sehr populistisch wäre und eher an die AfD erinnert.
Was man den Politikern schreiben sollte
Ausschlaggebend für meine Beurteilung ist die Auflistung, die von beiden Interessensgemeinschaften veröffentlicht wurde:
Schreibt an Eure Abgeordneten. Erzählt Ihnen in ein paar lesbaren Sätzen,
• wie Ihr vom todbringenden Tabakrauchen durch das Dampfen losgekommen seid,
IG-ED und ExRauer, 03.03.2021
• was das Dampfen Euch bedeutet,
• wie wichtig es war für den Umstieg vom Rauchen,
• wie Ihr unter der eigenen Qualmerei gelitten habt,
• wie Ihr reagieren werdet, wenn die geplante Steuer kommt,
• welche Auswirkungen eine Steuer in beabsichtigter Höhe hätte
Realitäts-Check
Um es zu erklären, gehe ich die Punkte einmal durch:
„wie Ihr vom todbringenden Tabakrauchen durch das Dampfen losgekommen seid“
Die Mehrzahl der Bundespolitiker hat keine Ahnung von Tobacco Harm Reduction, geschweige denn von Dampfen. Man muss davon ausgehen, dass für den Adressaten Dampfen erst einmal das gleiche wie Rauchen ist. Für die meisten gibt es also kein „losgekommen“. Jemand der dampft, ist für die meisten Politiker schlicht jemand, der nach wie vor potentiell gesundheitsgefährdend Nikotin konsumiert.
Wir sind kaum zwei Jahre davon entfernt, dass „Rauchstopp“ in wissenschaftlichen Veröffentlichungen nicht mehr mit „Konsumstopp“ gleichgesetzt wird. Großen Anteil daran hatte die britische Aufklärung, auch durch den Staat. Teilweise wird er es aber noch heute synonym verwendet.
Eine Dramatisierung wie „todbringend“ ist auch deshalb überflüssig, weil Politiker sich in ihrem Bestreben der Regulierung für 83.000.000 Bundesbürger nicht einmal von einigen hundert Zuschriften von Krebskranken beeinflussen lassen dürfen. Geschweige denn von Dampfern, die „freiwillig“ einer Genussdroge fröhnen.
„was das Dampfen Euch bedeutet“
Deshalb ist es auch völlig überflüssig, einem Bundespolitiker zu erzählen, was einem persönlich das Dampfen bedeutet. Man argumentiert ein Engagement gegen Massentierhaltung auch nicht damit, was einem Tiere bedeuten.
„wie wichtig es war für den Umstieg vom Rauchen“
Wie wichtig was war? Und wäre es auch ohne gegangen? Quelle?
„wie Ihr unter der eigenen Qualmerei gelitten habt“
Das wissen die Politiker. Genauso wie viele Menschen unter den Folgen anderer Genussdrogen und Drogen leiden.
Meinung irrelevant
Die letzten beiden Punkte sind die einzigen, die in meinen Augen einen Sinn machen könnten. Die Reaktion auf die Steuerpläne und die zu erwartenden Folgen.
Aber eben nur könnten.
Politiker sind nur an Meinungen Einzelner interessiert, wenn es um die Wahl geht. Und auch dann nur in entsprechender Menge.
Einige hundert Zuschriften von Dampferinnen und Dampfern, die damit drohen sie nicht zu wählen, fallen nicht weiter ins Gewicht.
Ebenso wenig Interesse dürften Politiker daran haben, ob Einzelne dann in Aussicht stellen, wieder zur Tabakzigarette zurückzukehren oder demnächst Gesetze zu brechen.
Der einzig erfolgversprechende Ansatz ist es, den Politikern die Auswirkung der Steuer zu erklären.
Alles hat seine Zeit und seinen Ort
Doch dazu braucht es mehr, als dass irgendein dahergelaufener Konsument – und ich formuliere es sehr bewusst so – einem Bundestagsabgeordneten etwas erklärt.
Derzeit befindet sich der Gesetzesentwurf in der Ressortabstimmung. Das bedeutet, er wird gerade durch die Ministerien gereicht. Mit dabei u.a. die Ministerien für Ernährung und Landwirtschaft, des Inneren, der Justiz und der Gesundheit.
Erst danach geht er in das eigentliche Gesetzgebungsverfahren und wird an die Ausschüsse weitergeleitet.
Das bedeutet wiederum, die meisten Politiker kennen den Referentenentwurf noch gar nicht. Die wissen gar nicht, worum es geht.
Jetzt ist also nicht der Zeitpunkt, um Stimmung zu machen. Das ist ähnlich sinnlos wie eine Petition gegen ein Gesetz, das noch gar nicht verabschiedet ist.
Jetzt ist der Zeitpunkt um Politiker anzusprechen und überhaupt mal eine Gesprächsbereitschaft herzustellen. Dafür muss man Aufklärungsarbeit leisten. Man muss (möglichst wissenschaftlich) fundiert und sachlich erklären, was da geplant ist und warum das falsch ist.
Fachwissen, Argumente, Quellen
Dazu ist der durchschnittliche Dampfer gar nicht in der Lage.
Und bevor einige jetzt an die Decke gehen und „Frechheit“ schreien:
Die Händlerverbände haben eine Stellungnahme abgegeben. Um die zu erarbeiten, haben sie einen Stab an Mitarbeitern. Mindestens der BfTG hat dazu einen Juristen befragt und eine Stellungnahme eines Wissenschaftlers eingeholt. Auch der VdeH wird sich dazu entsprechend beraten haben.
Das gleiche gilt auch für mich.
Ich arbeite seit über einer Woche an einem Memorandum, das ich öffentlich bereitstellen möchte. Darin möchte ich Argumente gegen das Gesetz mit möglichst vielen Quellverweisen auflisten. Und dazu sammel ich ganz viel (sogar von Tabakkonzernen), das denke ich mir nicht alles selber aus.
Ich bin seit etwa fünf Jahren hauptberuflich und professionell im Bereich Tobacco Harm Reduction tätig. Und ich habe eine entsprechende Ausbildung. Trotzdem habe ich noch keinen Bundestagsabgeordneten angeschrieben. Auch ich kann das nicht mal eben aus der Hüfte. Und bilde es mir auch gar nicht ein.
Ich weiß aus vielen Erfahrungsberichten, dass einige Dampfer eine standarisierte Antwort der jeweiligen Partei bekommen. Beispielsweise von den Grünen, die offenbar bundesweit ein und die gleiche Mail mit ihren eigenen Positionen versenden, sich aber gar nicht inhaltlich genauer zu dem Entwurf äußern.
Denn auch das sollten sich einige mal bewusstmachen: Die Politiker des Bundestages verfügen üblicherweise über ein Büro mit Mitarbeitern im Bundestag, und über ein Büro in ihrem Wahlkreis mit Mitarbeitern. Die bekommen solche Mails gar nicht selber zu Gesicht.
Wenn Realität die Wunschvorstellung stört
Die beiden Interessengemeinschaften behaupten, eine solche Mail-Aktion wäre „mit ausschlaggebend“ gewesen, dass die Tabakproduktrichtlinie der EU nicht so streng ausgefallen sei. Das halte ich für eine bloße Behauptung.
Dazu sollte man sich auch anschauen, wer zu welchem Zeitpunkt von wem angeschrieben wurde. Und wie viele Zuschriften es waren.
Ich weiß, dass ich mich bei vielen innerhalb der Online-Blase mit diesem Kommentar wieder unbeliebt mache. Aber es geht mir nicht um IG-Ed oder Petitionen oder Wutdampfer. Ich bin auch nicht Hiob, der die völlige Sinnlosigkeit verkündet.
Ich rate jetzt und in dieser Form schlicht davon ab. Denn ich sehe mehr Schaden als Nutzen. Ich sehe wieder einmal eine Äußerung des Aktionismus und der Hilflosigkeit.
Und ja, so leid es mir tut und so vielen das nicht schmecken mag:
Demokratie bedeutet mehr, als mal irgendwie seine Meinung zu sagen. Das kann man bei den Wahlen.
Der Ablauf steht
Eine Mail von einem Wissenschaftler, eine gut argumentierte Stellungnahme eines angesehenen Absenders, ist mehr wert, als tausend Mails von Konsumenten. Zur richtigen Zeit, an den richtigen Adressaten.
Und wer das nicht leisten kann, der hat wenig Chancen, an der demokratischen Willensbildung teilzuhaben.
Das ist die politische Realität.
Und diese Form ist ganz einfach falsch. Die falsche Zeit, die falschen Absender, die falschen Adressaten, die falschen Argumente.
Der Konsumentenverband BVRA wurde übrigens zu einer Stellungnahme vom Finanzministerium eingeladen. Ich weiß, dass die sehr hart daran arbeiten. Und ich bin sicher, dass wir später auch noch viele Argumente zusammentragen oder ich zumindest etwas werde beisteuern können.
Und in meiner sehr persönlichen Meinung ist ein Konsumentenverband genau dafür da. Er muss mehr können, als andere dazu aufzurufen, selber etwas zu machen. Dafür brauche ich keine Interessengemeinschaft. Denn das kann ich eben auch ohne sie.
Im April soll die erste Lesung im Bundestag anfangen. (Zeitplan Link unten)
Dann geht es überhaupt erst richtig los.
Bis dahin sollten die Interessengemeinschaften und Verbände lieber daran arbeiten, wie sie die Politiker erreichen können, Aufklärungsarbeit leisten und sich vorbereiten.
Ein großer Erfolg wäre beispielsweise, wenn der Gesetzesentwurf auch dem Gesundheitsausschuss vorgelegt wird. Bisher ist nämlich lediglich eine Beratung im Finanzausschuss geplant. Und die interessiert Harm Reduction herzlich wenig.
Das dürfte ein leichter zu erreichendes Ziel sein, und es könnte der ganzen Sache einen ganz anderen Drall geben.
Und sollte später, aber erst dann, eine Mail-Aktion Sinn machen, werde auch ich dazu aufrufen. Versprochen.
Joey Hoffmann
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